Lovestoryzeit von Doris.R.Thomas.Autorin und Lektorat.Fernweh

Kurztexte von Ursel Schmid

Vollmond

Die Schlaflosigkeit treibt mich aus dem Bett. Ich höre Achims regelmäßige Atemzüge, schleiche in die Küche und trinke einen Schluck Wasser. Weißes Licht schimmert herein. Hinter der Linde sehe ich eine riesige silbrige Kugel am Firmament. Die Atmosphäre lockt mich auf die Terrasse. Auf dem Baum sitzt ein schwarzer Vogel und starrt mir in die Augen. Meine Gedanken mäandern. Seit zwei Jahren hüpfe ich vor dem Tod her wie eine Krähe vor der Katze, kokettiere, lass mich erschrecken, fliege hoch, lande unsanft, laufe weiter. Wann werden die gierigen Krallen sich in den Leib bohren, wann geht mir der Atem aus? Ich betrachte den Vollmond, genieße das zauberhafte Leuchten, die Äffchen im Gehirn beruhigen sich. Mein Körper zittert. Ich spüre kräftige Arme, die sich von hinten an mich schmiegen und umarmen, weiche Hände umfassen die kalten Finger. Ich lehne den Kopf an und atme tief ein. Mir ist warm ums Herz.

© Ursel Schmid

Kalte Füsse

Schlechtgelaunt ziehe ich die Schultern hoch. Schon vor einer Dreiviertelstunde hat die kaputte S-Bahn einen Haufen Morgenpendler in das matschige Schneetreiben entlassen. Eine Ansage zu einem Ersatzbus lässt die Herde hektisch wie Lemminge die Straße überqueren und weitere zwanzig Minuten erwartungsfroh in die Dunkelheit starren. Meine Füße sind zu Eisklumpen mutiert. Die Bahn steht unschlüssig auf den Gleisen. Ich stapfe zurück auf den Bahnsteig, die Tür öffnet sich. Entweder sie fährt mich zur Arbeit oder nach Hause, beides in Ordnung, denke ich. Langsam tauen die Füße unter Schmerzen wieder auf, ungeduldig tappe ich von einem Bein auf das andere und starre missmutig raus auf die wartenden Menschen. Mein Blick fällt auf einen großen Mann mit roter Jacke und grauschwarzem Haaren. Diese Nase ... . Ich richte mich auf und straffe die Schultern. Die Erinnerung an seine Stimme schneidet mir ins Ohr. „Ich kann das nicht, ich muss unsere Beziehung beenden.“ Den steinigen Weg der Therapie habe ich alleine durchgestanden. Es geht mir wieder gut. Ich schaue ihn an, ein Anflug von Schadenfreude durchquert mein Herz. „Dir gönne ich die kalten Füße.“ Das Schneetreiben wird wilder, die Bahn setzt sich in Bewegung.

© Ursel Schmid

Familiengeheimnis

Opas Notizbuch sinkt mir aus der Hand auf den staubigen Dachboden. Meine Gedanken sind bleischwer. Omas Ausstrahlung auf den alten Schwarzweiß-Fotos. Der entleerte Blick dieser gealterten schwarzhaarigen Schönheit, gezeichnet vom Verlust ihres einzigen Sohnes. Ohne Nachricht seit Jahren nach Kriegsende. Nagende Ungewissheit zerfurchte ihr Gesicht. Sie weigerte sich, zu glauben, er sei in der Kriegsgefangenschaft gestorben. Opa beschreibt den gesellschaftlichen Druck, den Sohn für tot erklären zu lassen. Ich las mit Entsetzen Opas Satz. „Sie schnallten sie auf dem Bett fest, schoben ihr etwas in den Mund und legten ihr ein Gerät um den Kopf. Niemals werde ich die Töne vergessen, die sie von sich gab, sie zerrissen mein Herz. Nie wieder wurde sie dieselbe, selbst nach Heimkehr unseres Sohns.“ Omas Augen verfolgen mich. Die leise erzählten Berichte über ihre diffuse Depression lichten sich. Plötzlich wispert mir die Migräne meines Vaters, die er uns vererbt hat, bedeutungsvoll zu.

© Ursel Schmid

Grillparty

Wo sind sie hin? Zwei Grillwürstchen lagen auf meinem Teller. Kurz lenkte mich die Gastgeberin ab, ich bewunderte ihren lieblichen Garten. Habe ich alles umgekippt? Hungrig suche ich den Boden ab, das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Ich brumme und schütte ein paar Schlucke Bier hinunter. Dann prüfe ich den Status auf dem Grill. Wo ist Tim? Ich scanne die Gegend nach meinem Sohn ab. Er kommt sicher um vor Langeweile. In der Ferne entdecke ich eine Silhouette in der aufkommenden Dämmerung. Was macht er da? Ich schleiche mich an. Tim kniet vor der Hecke. In Augenhöhe ist ein Loch im Geäst. Er hebt die Hand und schiebt eine Grillwurst durch die Öffnung. Meine Wurst! Was zum Teufel … ich bücke mich und schaue in zwei sanfte braune Augen und eine geöffnete Schnauze, die vorsichtig das Fleisch entgegennimmt und es mit einem Happs herunterschluckt. Nachbars ewig hungriger Hund. Ich umschlinge meinen Jungen und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.

© Ursel Schmid

Bergsee

Paul entkleidet sich vollständig. Ich schaue ihn verwundert an. „Die Legende um diesen Bergsee besagt, man wirke zehn Jahre jünger, wenn man darin bade.“ Spricht‘s und watet in das eiskalte Wasser. Seine blauen Augen sind ebenso tiefgründig wie der See. Ich packe das Picknick aus, schnuppere an der würzigen Forellenmousse, und betrachte seinen drahtigen nackten Körper. Ein Gedanke fliegt mir durch den Kopf. Hastig schnappe ich das Tuch und gehe eilig auf ihn zu. „Was soll ich mit einem zehn Jahre jüngeren Mann, wenn er nicht mehr auf mich steht?“ Ich rubbele ihn warm und schließe ihn in meine Arme.

© Ursel Schmid

Schlafsack

Ich schlenderte vom Lagerfeuer zum Schlafplatz und rollte meinen Schlafsack aus. Die Vorstellung nächtlicher Gesellschaft von Skorpionen und Schlangen ließ mich die Instruktionen unseres Wanderführers akkurat ausführen. Lieber etwas Wärmeres ... Wohlwollend dachte ich über Thomas nach, der am Vortag lächelnd sein Kamel neben meines gelenkt hatte. Gemeinsam waren wir im meditativen Schaukelgang bei fünfzig Grad durch das Wadi geritten, hatten zugesehen, wie die Tiere mit ihren Lippen vorsichtig Blätter zwischen Dornen abpflückten und hatten über Gott und die Welt philosophiert. Vorhin hatte er mir das schönste Stück Tomate mit Käse herübergeschoben. „Damit du was auf die Rippen kriegst, morgen wollen wir das Wadi von weit oben betrachten.“ Solch eine sternenklare Nacht sollte niemand alleine verbringen ... Ich seufzte, die Milchstraße leuchtete in voller Pracht in der einsamen und komplett lichtfreien Landschaft des Sinai auf uns herunter. Amüsiert hörte ich die lautstarken Blähungen der zusammengerotteten Kamele und war froh, dass sie weit genug weg waren. Das junge israelische Paar hatte sich augenzwinkernd hinter einem abgelegenen Felsen einquartiert. Sehnsüchtig starrte ich in den Himmel. Ein warmer Arm legte sich um meine Schulter, instinktiv wirbelte ich herum. Thomas beugte sich zu mir, sein leichtes Aftershave kitzelte die Nase. “Darf ich dir meinen Schlafsack anbieten, und wir erkunden gemeinsam die Sterne?“

© Ursel Schmid

Heiße Küsse, Kalte Abfuhr

Die Tür knallte vor seiner Nase zu. Röte stieg in sein Gesicht, irritiert wischte er sich eine herabhängende Haarsträhne aus der Stirn. War es Wut, oder Scham, die ihm das Blut in den Kopf pumpte? Mit hängenden Schultern verließ er das dunkle Treppenhaus und ging in die Nacht hinaus. Die Party hatte sich so gut angelassen. Delia hatte das Motto „verkehrte Welt“ ausgegeben. Sich als Frau zu verkleiden hatte riesigen Spaß gemacht. Seine Freundin Mara hatte sich als Spaßbremse gezeigt und ein normales Partyoutfit gewählt. Mit geschminkten Lippen und Perücke stolzierte er in seinen High Heels in die Wohnung und badete in anerkennenden und belustigten Blicken. Vor allem Delias Augen hatten ihn angezogen. Funkelndes Blau, sie warf ihren Kopf mit dem Männerhut nach hinten und lächelte ihn herausfordernd an. Schon seit einiger Zeit begehrte er sie. Die Stimmung stieg, je öfter der Secco in der Runde kreiste, die Musik wurde lauter. Die ersten begannen zu tanzen. Jemand legte einen Blues auf. Er drehte sich um. Mara entdeckte er nicht. Vermutlich war sie müde und war nach Hause gegangen. Er lief durch die Räume. Wo war Delia? Im Flur sah er sie. Sie winkte ihm, er folgte in ihr WG-Zimmer. Sie zog ihn an sich. Er roch einen Hauch von Schweiß vermischt mit einem schweren Parfum. Erregt presste er sie an sich,  ihre Brüste drückten sich durch sein dünnes Kleid, er küsste sie leidenschaftlich. Sie erwiderte sein Begehren. „Jetzt nicht. Später“, flüsterte sie und schob ihn unvermittelt von sich. Irritiert löste er sich, sie duckte sich weg und schlüpfte aus der Tür. Er hatte sich ein paar Biere reingezogen, die Party verlassen, und als die letzten Gäste das Haus verließen, zügig die Treppen erklommen und geklingelt. „Ach, du, was willst du?“ Ihr Gesichtsausdruck war gelangweilt, abweisend. „Ich … du hast doch … .“ „Ach blabla, du musst nicht alles glauben, was man dir sagt, troll dich, ich kann dich heute nicht gebrauchen.“ Als hätte sie ihm Eiswürfel in den Schoß gekippt.

© Ursel Schmid

Sonnenbrand

Armer Nigel. Sein wohlgeformter Körper sah aus wie ein seitlich abgelegter Hotdog. Die Sonne brannte unbarmherzig auf Nizzas Strand. Doch der Brite in ihm hatte der Erkenntnis getrotzt, seine weiße Haut könne Schaden nehmen. Später in der Dämmerung kreisten die Gläser. „Who put the cookies in the cookie jar?“ Das Trinkspiel der Sprachgruppe hatte es in sich. Wer es falsch sagte, musste trinken, versprach sich, nahm wieder einen Mundvoll … die Stimmung stieg. Im Halbdunkel sah Nigels Haut bräunlich aus. Seine grünbraunen Augen versenkten sich im meine. Dieser weiche Mund, der aus der Flasche trank … ein letzter Schluck, er griff nach meiner Hand. Wir wanderten am Wasser entlang, die Lichter der Stadt spiegelten sich im Meer. Unsere Lippen fanden zueinander. Halb zog er mich, halb sank ich hin. Ich erwiderte seinen Kuss, er stöhnte. Wie, jetzt schon? Er hob den Oberkörper und grinste. „Le dos“, der Rücken, eine der neuen Vokabeln. Ich schlang Arme und Beine um ihn, wir küssten im Sitzen weiter, der Beginn einer britisch-deutschen Annäherung.

© Ursel Schmid

Traum

Die hellgrünen Blätter der Linde spenden angenehmen Schatten über dem Tisch und dem bequemen Gartenstuhl. Ludwig hält die Augen geschlossen, er genießt die seidige Luft. Wohlig streckt er die Beine aus, dehnt seine alten Muskeln, dann überschlägt er sie wieder. Maria hat ihm

einen Apfelkuchen und Milchkaffee angekündigt. Riecht er schon Kaffeeduft aus dem Haus? Sein Buch liegt auf seinem Schoß, er hat keine Lust, zu lesen. Er denkt über die Jahre mit seiner Frau nach. Wärme, tiefe Liebe erfüllen ihn. Ein scharfes Zwicken in der linken Brusthälfte durchbricht seinen Traum. Der Schmerz steigert sich. Kurz bäumt er sich auf, dann sackt sein Körper im Stuhl zusammen.  Er schwebt. Spürt, wie seine Frau an den Tisch herantritt, sie trägt eine dampfende Tasse Kaffee. Maria legt ihre Hand auf seinen Arm. „Ludwig, wach auf. Was ist mit dir?“ Verzweifelt schüttelt sie ihn, die Stimme schraubt sich in die Höhe. „Du kannst nicht gehen. Ich brauche dich. Ich liebe dich.“ „Wieso gehen, Maria. Ich sitze hier.“ Warum rüttelt sie wieder seinen alten Körper? Hört sie ihn nicht? Ist sein Leben nur ein Traum?

© Ursel Schmid

Schwanger

„Ich war beim Frauenarzt.“ Aus der Badewanne heraus fixierte ich ihn. Wie in Zeitlupe schaute er auf. Ich sah es in ihm arbeiten. Er zog die Stirn hoch und verschränkte die Arme auf der Brust. „Warte … beim Frauenarzt… willst du mir … nee das kann nicht sein, du verhütest doch… du bist doch nicht … schwanger?“ Ich schwieg. Tief in meiner Bauchhöhle spürte ich ein unangenehmes Ziehen. „Es ist noch nicht zu sehen, ob Mädchen oder Junge, ist noch viel zu früh. Ja, wir kriegen ein Kind.“ Sein Oberkörper versteifte sich, er kippte zurück, lehnte den Rücken an das Waschbecken, und schaute mich einen Moment schweigend an. „Du willst das doch nicht wirklich kriegen? Stell dir mal deine Zukunft vor, mit Blag. Und meine. Das passt überhaupt nicht in unser Leben. Dann ist nix mehr mit Party und Chillen… Wie konnte das passieren? Verdammt …ich brauch jetzt erstmal ein Bier.“ Er knallte die Tür hinter sich zu.  Seine Worte trafen mich, als würde er mir ein Messer ins Herz bohren. Ich zog die Knie an und legte die Hände auf den Bauch. Die Vision von der heilen Familie schmolz dahin.

© Ursel Schmid

Bienenstich

Ich wandere den Weg auf der Anhöhe am Seeufer lang. Meine Laune ist miserabel und treibt die Schritte zu Höchstleistungen an. René hat sich gestern wieder mal von seiner besten Seite gezeigt. Im Hotelrestaurant hat er ein Paar mit Hund angefahren, das Tier sei nicht angemeldet. Das stimmte nicht. Dann hatte er den Tisch der beiden ignoriert, bis zähneknirschend die Kollegin den Service übernahm. Sein schmaler Hintern mit dem sich abzeichnenden Handy in der Hosentasche ging mir gewaltig auf die Nerven. Verstärkt, seit ich entdeckt hatte, dass er den zu Vroni schleppte, wenn ich Spätschicht hatte. Der „Hengst von Seehammer“. Hämisch grinse ich über den neuen Spitznamen. Mein betrübter Blick fällt auf das prachtvolle Lila der Fingerhüte am Wegesrand. Wütend rupfe ich an Blüten und Blättern, werfe sie um mich. Dann stampfe ich den Weg runter und gehe nach Hause. René hat heute Frühschicht, ich einen freien Tag. Bienenstich backen wäre eine gute Abwechslung, die sahnige Verführung lockt mich. Zuhause rühre ich den Hefeteig mit den Fingern durch und lasse ihn ruhen. Als ich die Creme herstelle, fällt ein halbes Blatt der Digitalis aus dem umgekrempelten Ärmel in die helle Masse. Nach kurzem Zögern rühre ich weiter, stelle den Teig in den Ofen, karamellisiere die Mandeln und füge den Bienenstich zusammen. Meinem gegelten Gatten mit den basedowschen Augen gönne ich eine ordentliche Gabe des Herzschmerzes, der er mir verpasst. Verführerisch bestücke ich die Kuchenplatte auf dem Esstisch und lege mich schlafen.

© Ursel Schmid

Eis am Stiel

Er sitzt eingepfercht in seinen Campingstuhl und lutscht an einem Eis am Stiel. Kräftige weiße Oberschenkel sprengen den Ansatz seiner blauweiß gestreiften Badehose. Ein Bauch wie eine helle behaarte Melone wölbt sich darüber. Genüsslich fährt die rote Zunge um die orangegrüne Masse. Ein Tropfen fällt auf sein Bein, er wischt ihn weg. Wo starrt er hin? Vor ihm im Sand spielen Mädchen im Bikini mit einem Ball und einem Hund. Ein Anflug von Widerwillen schiebt sich in mein Bewusstsein.  Gleichzeitig wirkt er wie aus der Zeit gefallen, ein verlorener kleiner Junge. Eine kräftige Frau mit grauen Haaren kommt angerannt, sie hält ein Handtuch in der Hand. „Komm Kalle“, liebevoll fasst sie seinen Arm und hebt ihn hoch. „Die Mädchen haben genug vom Ballspielen, wir wollen im Strandcafé etwas trinken.“ Sie rubbelt den Sand von seinen Beinen, bugsiert ihn in blaue Shorts und frisches Hemd und weist ihn an, seine Sandalen anzuziehen. Verlegen will ich wegsehen, da fängt sie meinen Blick auf. Lächelnd hebt sie die Schultern. „Mein Bruder, nicht ganz von dieser Welt.“ Ich lächele zurück.

© Ursel Schmid

Das Café am Meer

Ich strecke meine Beine in die Sonne. Braun sollen sie werden, zulange waren sie in Business-Anzügen versteckt. Das Café mit Blick auf den Hafen in Finisterre ist gemütlich, der Brunch reichhaltig. „In genau zehn Jahren zum Frühstück am Ende der Welt.“ Auf der Abiturfeier hatten wir viel getrunken. Aber Frank hatte ernst geschaut, ich schlug ein. Die intensivste Nacht meines Lebens besiegelte den Pakt. Ich schaue herum, eine leichte Brise lässt mich kurz frösteln. Kein blonder Schopf weit und breit. Ob er mit Frau und Kindern zuhause sitzt? Ich blicke aufs Meer. Mir fällt das „Café am Rande der Welt“ ein. Fragen zum Sinn des Lebens. Der Gedanke sticht, mir wird siedend heiß, ich springe auf. Eine Veränderung steht an, so kann es nicht weitergehen. Kein Frank wird mich aus der eigenen Misere befreien. Beschwingt gehe ich ans Wasser, stippe die Füße ins kalte Meer. Morgen rufe ich meinen Chef an.

© Ursel Schmid

Flirt

Die Musik wummert tanzverdächtig, der erste Apérol Spritz steigt mit zu Kopf. Ich bin nichts mehr gewöhnt. Ich bewege mich entspannt zur Musik, grinse meinen Kumpel an und proste ihm zu. In meinem Tigeranzug und langer blonder Perücke fühle ich mich herrlich verkleidet und sicher beschützt. Die Karnevalsparty kann steigen, sie wird mich ablenken. Neben mir spüre ich einen durchdringenden Blick. Der Stadtsoldat saugt sich mit seinem Blick an mir fest. Ich drehe mich um. Er kommt um mich herum getanzt und rückt immer näher. Der Mann ist stattlich, die Augen funkeln. Innerlich zucke ich zusammen. Falscher Zeitpunkt, falscher Ort. Meine aufgesetzte Leichtigkeit verschwindet. Wie kann ich diese Flirtattacke abwenden? Ich hake mich bei meinem Kumpel unter. Der Mann strahlt mich weiter an. Das hat man von seinen Fassaden. Ich löse mich und gehe in Richtung Toilette. Er folgt mir. Ich drehe mich um, schüttele mein blondes Haupt. Dann greife ich an die Stirn und löse die Haarpracht von meinem Kopf. Verwirrt schaut er mich an, der Glanz verschwindet aus seinen Augen. „Verzeihung“, murmelt er und verlässt fluchtartig den Gang. Ich richte mein Krönchen, hänge die Perücke an einen Garderobenhaken, und stürze mich wieder ins Getümmel.

© Ursel Schmid

Picknick

Das grüne Maigras blüht prächtig. Seit ich nicht mehr gehen kann, hast du mir den geländegängigen Rollstuhl gekauft. „Ich weiß doch, wie sehr du die Natur liebst. Und zu den Pferden musst du auch kommen können. Wir zwei schaffen das.“ Schon einige Male hast du mich durch den Wald geschoben, im Kalten zärtlich mit Decke zugedeckt, in der Sonne mit Schirm als Schutz. Liebevoll betrachte ich deine faltigen Hände, als du mir hilfst, mich aus dem Auto in das Gefährt zu hieven. „Wir wollen heute zu den Pferden.“ Wie sanft deine Stimme ist. Es ist mein sechzigster Geburtstag, und du könntest mir keine größere Freude bereiten. Wir rollen auf die Wiese zu. Als es um die Ecke geht, sehe ich einen weißen Tisch. Eine prächtige Torte ziert die Mitte. Erstaunt schaue ich zurück in dein Gesicht, da nehme ich eine Bewegung wahr. Aus der Stallhütte kommen unsere engsten Freunde mit Sektgläsern und Fingerfood heraus. Lauthals singen sie „Happy Birthday“ und strahlen mich an. Du breitest einige Decken neben den Pferden aus und hilfst mir auf. Alle hocken sich dazu, wir prosten uns zu und schneiden die Torte an. Die Tiere mümmeln friedlich, das Gras duftet frisch, sie schnauben. Es ist das schönste Picknick meines Lebens.

© Ursel Schmid

Umzug

Vorsichtig öffne ich den Karton. Obenauf liegt ein brauner Hase. Weich schmiegt er sich in meine Hände. Ein leichter Hauch von staubiger Modrikeit zieht mir in die Nase. Mit dem Zeigefinger gleite ich an der Bauchnaht entlang. Du hattest ein Wahnsinnstalent darin, Tiere für Kinder lebensecht und griffig zu gestalten. Ich liebte den Hasen von der ersten Sekunde an. Mama kriegte ihn nicht aus dem Bett heraus, wenn ich bei dir übernachtete. Mein Heulsirenenton machte ihr den Garaus. Puschel blieb an meiner Seite. Später verliebte ich mich in deinen Nusskuchen, den du zu jedem Geburtstag dorthin schicktest, wo uns die häufigen Umzüge meines Vaters hin verschlugen. Ich nehme einen tiefen Atemzug und richte den Oberkörper auf. Ein Jahr lang habe ich mich geweigert, diesen Karton zu öffnen. Martin hat mich gelassen. „Frisst kein Heu auf dem Dachboden, der Zeitpunkt kommt, wann du reinschauen willst.“ Ich schließe die Augen. „Ist Uroma jetzt im Himmel?“ Luna wisperte zaghaft und zupfte die Decke an deinem Hospizbett. Energisch nehme ich Puschel und setze ihn draußen auf die Fensterbank. Der Junge muss an die frische Luft, beschließe ich. Dort hat er eine prima Aussicht und winkt dir zu.

© Ursel Schmid

Lockenkopf

Eine Mutter mit Säugling im Kinderwagen kam auf uns zu. Vor ihr hoppelte eine Fünfjährige durch die wenigen Rest-Pfützen. Sie hatte ein Hänger-Kleidchen mit Rüschen an, das ihr die Aura eines aus der Zeit gefallenen Wesens gab. An den kleinen Füßen waren Lackschuhe mit Riemchen. Freudestrahlend hüpfte sie auf dem Platz herum und schüttelte die schulterlangen Korkenzieherlöckchen. Große Augen schauten keck in die Welt hinaus. Sie summte leise vor sich hin. „Carlotta, nicht mitten in die Pfützen rein, du wirst nass“, rief die Mutter ihr hinterher. Sie schob den Kinderwagen vor sich her und biss kräftig in ein goldbraunes Croissant hinein. Dann setzte sie sich auf die Parkbank vor uns. Sie stellte die Bremse fest und vertilgte weiter das Hörnchen. Das Kind im Wagen schien zu schlafen, die Mutter wippte es leicht mit den Füßen. Carlotta blieb kurz stehen, ließ mit den Kulleraugen den Blick schweifen. Dann fing sie an, lauter zu summen. Wie aus dem Nichts legte der kleine Feger eine stepptanzartige Einlage auf das Altstadtparkett, das einen Vergleich mit Fred Astaire nicht zu scheuen brauchte.

Fasziniert starrte ich sie an, völlig selbstvergessen spulte sie die Schritte ab. Aus dem Gesicht strahlte pure Lebensfreude, die Beinchen bewegten sich in einer Schnelligkeit, die jeden Zuschauer vor Neid erblassen ließ. Wie war es einem so jungen Mädchen möglich, eine solche Choreographie zu beherrschen?

Wild schüttelte sie die blonden Locken, beendete den Tanz und rannte begeistert auf ihre Mutter zu. Die ließ sie herzhaft in ihren Croissant beißen. Ich hatte mich auf den ersten Blick in den kleinen Lockenkopf verliebt.

Missverständnis

Die Straße ist um Mitternacht menschenleer, die Luft durchtränkt vom Duft der Lindenblüten. Angst schlingt sich wie eine Python um meinen Brustkorb. Vor einigen Wochen spazierte ich nach Hause, hinter mir zwei Männer. Es schallte durch die Nacht: „Hey die da vorne in der schwarzen Jacke, die vergewaltigen wir jetzt.“ Ich beschleunigte, hechtete in unsere Haustür und duckte mich. Die Schritte verhallten, mein Atem flachte ab. Ein Selbstverteidigungskurs lehrte uns: Keine Opferhaltung. Der Gefahr das Gesicht zuwenden. Ich horche, gehe weiter. Direkt hinter mir höre ich ein dunkles Timbre. „Tss, tss, tss.“ Assoziationen an die Zeit in Südfrankreich mit Anfang zwanzig wallen in mir auf. Lüsterne Stimmen, denen manchmal gierige Hände folgten. Mein Körper wirbelt herum im Kampfnattermodus. „Was willst du?“ fauche ich, den Schlüssel wie eine Waffe gereckt. Der blonde Mann schaut verwundert hoch. Dann grinst er mich breit an. „Oh, sorry, ich begrüße nur meine Mitbewohnerin.“ Verwirrt blicke ich auf den Gehweg. Unter der Stoßstange des parkenden Autos sitzt eine schwarzweiße Katze und putzt sich die Pfote. Verlegen schaue ich mein Gegenüber an. „Tut mir leid, ein Missver... .“ Ich stutze. Dieses Lächeln ... Erinnerungsblitze an die Abiturfahrt, warme Augen und weiche Lippen, die mich unter den römischen Sternen verführten. „Tom?“ Seine Lachfältchen vertiefen sich. „Mara. Hey, lang her. Ich wohne hier, die Katze braucht Futter. Hast du Lust auf einen Absacker? Ein Glas Chianti auf alte Zeiten?“

© Ursel Schmid

One-Night-Stand

Es ist dunkel. Tiefschwarz. Die Luft ist abgestanden, mir ist eng. Dennoch zittert mein Körper vor Aufregung. Ich rieche Fabians Duschgel, es duftet herrlich zitronig. Meine Stirn ist an seine Schulter gelehnt, unsere Hände umfassen sich. Eine Locke kitzelt mir das Ohr und löst ein Kribbeln im gesamten Körper aus. Sein Kopf bewegt sich sacht auf mich zu, ich spüre seine weichen Lippen. Etwas regt sich im Unterleib. In seinem ebenso … Wir hören ein Knacken und zucken zusammen. „Meinst du, da ist jemand?“ Ich drücke seine Hand. „Das war draußen, vielleicht hat jemand ein Fahrrad aufgeschlossen. Um diese Zeit hier drinnen …. eher nicht.“ Ich grinse und presse mich weiter an ihn. „Schade, dass es hier so eng ist, wäre doch schön, wenn wir jetzt bei mir zuhause im Bett wären … allerdings wären meine Eltern dann alle paar Minuten an der Tür.“ Ich ahne sein Lächeln durch die Dunkelheit. „Stimmt. Sind wir selber schuld, oder? Dumme Idee, die Nacht in der Turnhalle verbringen zu wollen, um allein zu sein. Und sich dann vom Hausmeister fast erwischen zu lassen … die Handys im Rucksack in der Halle … War ja ein beherzter Sprung in den großen Spind. Dumm nur, dass er jetzt von innen nicht mehr aufgeht!“ Er liebkost meinen Hals. Weitere Bewegungen in diesem Verschlag sind nicht möglich. Fabian schaut auf seine Uhr. „Noch fünf Stunden, bis der alte Meckerfuzzi wieder aufschließt. Lehn dich an mich, ich halt dich.“ Mir wird warm. Das ist der keuscheste One-Night-Stand der Welt.

© Ursel Schmid

Hasibär

Der neue Kollege Max hatte warme braune Augen und Lachfältchen. Gutgelaunt kam er in unser erstes gemeinsames Teammeeting und brachte Doughnuts mit. Sie waren unverschämt lecker, aber der Linie wegen aß ich nur eines, innerlich wehleidend. Als wir aufstanden, nahm ich Max‘ Bauchumfang wahr. Hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit den mitgebrachten Köstlichkeiten. Ich traf seinen Blick und senkte die Augen. Warum sollte er nicht gerne Süßes essen. Max war ein gutgelaunter Kerl, und ich kannte mich, wenn ich mir eine Leckerei verkniff. Ziege wäre ein Kompliment. In den nächsten Wochen arbeitete sich Max kompetent ins Team ein, alle mochten seine sympathische Art, und seine Körperform störte niemanden. Manchmal verharrten seine Augen auf mir, ich lächelte zurück. Wenn er nicht da war, nannten wir ihn liebevoll „Hasibär“. Max hatte einen mehrwöchigen Projekteinsatz im Süden, dann war ich im Urlaub. Seine  tapsige Art fehlte mir. Als ich nach meiner Abwesenheit im Büro in die Teeküche kam, roch es nach frischgebrühtem Kaffee und feinherbem Männerparfüm. Max stand an der Kaffeemaschine. Er wirkte straffer, hatte er abgenommen? Beschwingt ging ich hinein. „Machst du mir einen Kaffee, Hasibär“ hörte ich mich sagen. „Äh“ … meine Stimme versagte und ich wurde puterrot. Verlegen schaute ich hoch. „Klar, meine Zuckerschnute“, lachte er mich an, „wenn du nach Büroschluss mit mir was trinken gehst?“ Wir grinsten uns an.

© Ursel Schmid

Versetzt

Ich starre aus dem Fenster. Mein verkniffenes Spiegelbild geht mir auf die Nerven. Selbst die anmutigen Häuserwände gegenüber und das Kopfsteinpflaster heben die Laune nicht. Ich trinke einen Schluck lauwarmen Kaffee und verziehe das Gesicht. Wie ich das Rheinland vermisse. Versetzt nach Görlitz. Der äußerste Osten wurde bei uns im Betrieb gehandelt wie die Verschickung in die Strafkolonie. Wem bin ich mit Schuhgröße 36 auf seine riesigen Plattfüße getreten, dass ich hier bin? Ich sehne mich nach den Waldritten auf Mina, die lange Mähne der Rappstute ersteht vor meinem inneren Auge, der Verzicht auf sie sticht in der Brust. Mathias kommt aus dem Badezimmer und legt von hinten seine Arme um meine Schultern. „Ich habe einen Reithof hier entdeckt. Da fahren wir jetzt hin, vielleicht findest du Freude an einer Vertreterin für Mina, bis sie hier sein kann.“ Ich drücke seine Hand. Seit gestern ist er bei mir für das Wochenende. Eine viertel Stunde später stehen wir an einem Paddock, zu dem mein Mann mich gelotst hat. Der Blick schweift über die Koppel. In einiger Entfernung steht ein schwarzes Pferd. Es spitzt die Ohren, schaut zu uns herüber und galoppiert auf uns zu. Meine Beine werden weich. Fassungslos streichle ich Minas Stirn, sie schmiegt den Kopf in meine Hand. Mathias lächelt. „Wie geht das denn?“ höre ich mich stammeln. Er grinst. „Du warst so bodenlos traurig nach der Versetzung. Ich bin heimlich gestern schon früher mit Mina im Hänger gekommen, um dich zu überraschen.“ Wortlos drücke ich ihm einen dicken Kuss auf die Lippen.

© Ursel Schmid

Fernweh

Franz beißt herzhaft in einen Tintenfischring. Seine Finger triefen vor Fett, er seufzt glücklich. Der Film in meinem Inneren katapultiert mich dreißig Jahre zurück. Die abenteuerliche Fahrt zu viert an die Plitvicer Seen. Wir knattern über schlaglochübersäte Straßen. Gastronomen an der adriatischen Küste vermiesen uns mit ihrer missmutigen Ausstrahlung den Ausblick auf azurfarbene Wellen. Das Tanken in der Nacht: unsere Schritte scheuchen Rattenhorden am Rande der Zapfsäulen auf. Dafür entschädigt uns die Sternennacht auf der Fähre von Dubrovnik an den Peloponnes, begleitet von sanften Gitarrenklängen der Mitreisenden. Frank liebte schon immer Tintenfisch. An der Küste in Griechenland beobachtete ich, wie Fischer ihren mehrarmigen Riesenfang auf den Felsen weich schlugen. Mir verging der Appetit auf Pulpo Salat. Frank prostet mir mit seinem Ouzo zu. Ich nicke, nehme einen Schluck und denke an unser beseeltes Schweigen in inniger Umarmung vor der Aura von Delphi. Wann wird es möglich sein, diese Gefühle wieder aufzuerwecken, ohne Furcht, Scham, im unbeschwerten Erleben der Schönheiten dieser Welt angesichts aktueller Realitäten?

© Ursel Schmid

Candle Light Dinner

Ermattet setze ich mich in einen der Camping Stühle, die der Gutsbesitzer Piet uns an die Pferdeboxen neben den kleinen Tisch gestellt hat. In die Box daneben hat er zwei Schlafsäcke für uns gelegt. Ich höre beide Pferde schnaubend ihr Heu mampfen, der feinwürzige Geruch zieht mir in die Nase. Was für ein Tag. Unser zehnter Hochzeitstag. Planmäßig wären wir jetzt auf Texel in der Ferienwohnung, die Tiere im Stall. Der Tisch im Restaurant ist sicher schon längst vergeben. Ein beißender Geruch hatte uns veranlasst, die nächste Autobahn Tankstelle mitten in Holland anzufahren. Die Bremsen des frisch aus der Werkstatt kommenden Hängers waren festgebacken und kurz davor, in Flammen aufzugehen. Was für ein Glück, dass wir Piets Reithof entdeckt haben. Das Gefährt ist zur Reparatur und soll frühmorgens fertig sein. Frank ist auf die Stalltoilette entschwunden. Wo bleibt er nur? Morgen ist auch noch ein Tag, tröste ich mich. Es ist fast dunkel, die Funzel der Stallgasse gibt nur diffuses Licht. Ich höre schlurfende Schritte. Mein Mann hält etwas hinter dem Rücken und lächelt. Dann stellt er zwei Weingläser und eine Flasche Rotwein auf den Tisch. Er gießt ein, baut ein Windlicht auf und zündet es an. Der Wein funkelt in den Gläsern. Er beugt sich zu mir vor, seine Augen sind tiefblau, er drückt seine Lippen auf meine. „Mit herzlichen Grüßen von Piet, meine Schöne, als Vorbereitung für unsere Nacht im Heu Bett. Auf wunderbare zehn Jahre! Auch wenn wir uns das Candle Light Dinner sicher anders vorgestellt.“

© Ursel Schmid

Abschied

Das leise Gespräch dringt sachte in meine Ohren. Ich halte die Augen geschlossen. Die für Dezember laue Luft streichelt mir das Gesicht. Ich strecke die Beine aus, die Kälte arbeitet sich trotz der Sonne durch die Plane hindurch. Der Kiefer spannt sich an, die Gedanken schweifen ab. Ich mag den Blick nicht heben. Dennoch erscheint vor meinem inneren Auge sein massiger Körper. Still liegt er da, befreit von der Qual.

Ich sah ihm an, wie er litt, sein gesamter Organismus drückte die Anspannung aus. Er wusste nicht wohin mit sich, wanderte hin und her, wollte sich legen, stand wieder auf. Zwanzig Jahre hat er mich begleitet, durch die Schmerzen beim Tod meines Vaters. Er durchlitt jeden beruflichen Stress mit, hat verlorene Lieben ausgehalten. Ich streichele seine Stirn, rede beruhigende Worte, um den Aufruhr im Inneren niederzukämpfen. Tränen rinnen die Wangen hinunter, ich höre meine Begleiterinnen wie durch einen Schleier. Als ich den Geländewagen der Ärztin vorfahren sehe, durchflutet eine Welle der Dankbarkeit meinen Körper. Gleichzeitig pocht das Blut heftig in den Adern. Zu dieser kräftigen blonden Frau habe ich bedingungsloses Vertrauen. Sie kommt mit zwei riesigen Spritzen auf die Wiese und gibt mit fester Stimme Anweisungen. Hoffnung und Grauen zugleich. Die erste Kanüle geht in den Hals. Er legt sich. Ich knie mich vor ihn, schaue auf den dichten Haarschopf und die großen braunen Augen. Leicht hebt er den Kopf, sein vertrauensvoller Blick richtet sich auf mich. Mein Gesicht friert ein. Wie soll ich diesen Abschied aushalten? Ich liebe dieses Geschöpf, das Islandpferd, das mein Leben verschönert, mir Zuneigung und Kraft geschenkt hat. Sie setzt die zweite Spritze. Ruhe kehrt in den großen Körper ein. Der sanfte Koloss ist von mir gegangen. Nie wieder wird er mich durch den Wald tragen.

Ich atme tief ein, spüre sacht eine Hand an der Schulter.

© Ursel Schmid

Verwählt

Ich laufe mit einem Strauß roter Rosen den Büroflur entlang und lausche. In einem dieser Räume wird sie sitzen. Ich werde ihrer Stimme folgen. Sinnlich, rauchig. Eine Verheißung. Als ich sie am Telefon hörte, verliebte ich mich umgehend. Mein Anruf galt Corinna, um den Projektstand mit ihr zu besprechen. „Sie sprechen mit Yvonne, was kann ich für Sie tun?“ Oh, wenn du wüsstest … die Härchen auf meinen muskulösen Oberarmen hatten sich aufgestellt. Ich richtete den Oberkörper auf und strich eine Strähne aus der Stirn. „Sie könnten einen Kaffee mit mir trinken, wenn die Kollegin nicht da ist, hätten Sie Zeit?“ Niemals im Büro! hatte ich mir geschworen. Aber diese Stimme … ich schwor, diesmal den Schwur zu brechen. „Sie haben sich verwählt!“ lachte perlend und legte auf. Im Foyer unseres Bürokomplexes gab es einen Blumenladen, mir war bekannt, wo das Projektteam saß. Ich spitzte die Ohren auf dem Weg durch den nüchternen Flur. Dann hörte ich sie, diese weiche Verlockung, die mir die Sinne raubte. Ich betrat durch die halb offenstehende Tür den Raum und lugte um eine Regalecke. Überrascht schaute sie hoch und legte auf. Sie lächelte verschmitzt und strich sich ihre grauen Haare aus der Stirn. „Sind die für mich? Wie lieb von Ihnen“.

© Ursel Schmid